Sollten wir keine Bücher von weißen Cis-Männern mehr lesen? Interview mit Tillmann Severin

Sollten wir keine Bücher von weißen Cis-Männern mehr lesen? Interview mit Tillmann Severin

In unseren Gesprächen mit Sabine Scholl und Arpana Berndt haben wir das Thema Identity Politics und Literatur diskutiert. Unser dritter Interview-Partner dazu ist Tillmann Severin.

Das Interview führte unsere Redakteurin Alisha Gamisch

AG: Für deine Kolumne “My white male bookshelf” hast du alle Bücher von Cis-Männern umgedreht und damit weiße Flecken in deinem Bücherregal sichtbar gemacht. Die Kolumne besteht aus Fotos von Bücherregalen verschiedener anderer Menschen, die dieses Prinzip nachmachen und damit auf den immer noch sehr stark weißen, cis, hetero, männlichen Kanon aufmerksam machen. Dazu besprichst du immer ein Buch, das eben nicht diesem Kanon entspricht. Wie bist du auf die Idee gekommen?

Tillmann Severins Bücherregal vor Beginn seines Projektes.

Tillmann Severins Bücherregal vor Beginn seines Projektes.

TS: Erstmal war da die Feststellung, dass ich fast nur männliche Autoren lese, was einigermaßen absurd für jemanden ist, der selbst Feminist genug ist, um zu wissen, warum das so ist und warum es problematisch ist. Dann habe ich mir vorgenommen, mehr nicht-männliche Autor*innen zu lesen. Eines Tages bin ich auf ein Foto gestoßen, auf dem alle Bücher männlicher Autoren in einer Buchhandlung umgedreht waren. Das sah irre aus: nur weiße Bücher. Ich habe dann sofort - es war einer dieser langen Winterabende - angefangen meine Bücher umzudrehen. Mit dem Ergebnis, dass es genau so weiß aussah. Als ich das gesehen habe, dachte ich: Ok, du solltest erst mal nur noch nicht männliche Autor*innen lesen. Daraus ist dann die Idee für die Kolumne entstanden.

Wie bist du dann weiter vorgegangen, was war dir wichtig bei der Kolumne?

Das weitere Vorgehen war spannend: Ich habe anders gelesen und anders Bücher gekauft. Es war interessant und erschreckend, an mir selbst zu beobachten, wie ich im Buchladen rumgestöbert habe und immer eher Bücher von Männern in Frage kamen. Es ist schwer zu beschreiben, warum. Covergestaltung, Themen, Titelgebung…wahrscheinlich einfach die festgefügte Vorstellung, dass Männer bessere Literatur schreiben. Strukturen sind ziemlich stark. Nach einer Weile habe ich dann aber gemerkt, wie sich mein Blick erweitert hat.

Ich habe mehr Bücher gesehen, bin offener für Bücher geworden, die mich vorher vielleicht nicht interessiert haben.

Nach ein paar Monaten, in denen ich gemerkt habe, wie bereichernd diese Lesepraxis ist, habe ich mit Julietta Fix (Anmerkung der Redaktion: von der Literatur-Plattform Fixpoetry) gesprochen und ihr von meiner Idee erzählt, eine Kolumne daraus zu machen. Sie war sofort begeistert. Zusammen haben wir dann die Idee entwickelt, immer ein Buchregal-Foto von einer Person aus dem Literaturbetrieb zu nehmen.

Bei der Kolumne war mir wichtig, dass es eben keine Kritiken sind, sondern immer ein Buch gefeiert wird, in das ich mich beim Lesen verliebt habe.

Die Auswahl ist eigentlich ziemlich subjektiv. Feministische Themen sind dabei kein Auswahlkriterium. Das ist eher die Rahmung des Ganzen. Es geht ja nicht darum zu sagen, hey, ich lese jetzt nur noch Autorinnen, die haben aber gefälligst über feministische Themen zu schreiben. Inhaltlich geht es in den einzelnen Ausgaben darum, Lesen zu feiern, den Spaß an den Texten rüberzubringen und Eindrücke, Erfahrungen und Gedanken zu teilen.

Wie genau hat sich dein Blick erweitert, hast du Beispielsituationen? Und was waren für dich wichtige Schritte in dem Prozess?

Alle haben ja ihren eigenen Lesehintergrund und bei mir spielt es sicher eine große Rolle, dass ich Literaturwissenschaft in München studiert habe. Da bekommt man natürlich nicht beigebracht, dass Männer besser schreiben, aber der Kanon ist nun mal weiß und männlich geprägt. Ich habe gerne studiert und sehr viel gelernt. Dazu gehörte aber auch das Gefühl, dass da immer noch ein Kanonautor mehr ist, den man lesen muss - und dass man alles andere daran messen muss.

Keine weißen heterosexuellen Cis-Männer mehr zu lesen ist für mich auch eine Emanzipation von diesem Kanon.

Ich merke, dass ich viel offener und lustvoller lese und ganz andere Qualitäten an Literatur wahrnehmen kann als ihre Kanonwürdigkeit.

Mit Arpana Berndt habe ich darüber gesprochen, dass auch unterschiedliches Verständnis darüber existiert, was gute Literatur ist, je nachdem mit welchen Prägungen und Vorstellungen darüber wir in unserem Leben konfrontiert waren. Sie beschreibt eine Situation, in der die nicht-migrantisch sozialisierten Mitredakteur*innen der BELLA triste einen Text für kitschig befunden haben, während sie fand, dass er treffend und angemessen migrantische Perspektiven wiedergibt. Hast du das Gefühl, dass sich auch dein Literaturverständnis durch das Lesen anderer Perspektiven verändert hat?

Absolut. Ich kann eine viel größere Bandbreite unterschiedlicher literarischer Zugänge genießen, ohne mich fragen zu müssen, ob das jetzt potentiell für den Kanon taugt. Natürlich habe ich mich das beim Lesen nicht permanent gefragt, aber Ideen von ernster, E-Literatur, U-, Unterhaltungsliteratur und von großer Weltliteratur sitzen ziemlich fest. Über diese Unterscheidung habe ich auch in einem Essay über die Kolumne geschrieben.

Ein Professor, bei dem ich studiert habe, meinte mal despektierlich, dass Gegenwartsromane vor allem Gebrauchsgegenstände seien. Ehrlich gesagt: Ich habe eine große Liebe zu Gebrauchsgegenständen und verstehe nicht, warum man sie verachten sollte.

Welche Reaktionen hast du bislang auf deine Kolumne erhalten?

Ein Teil der Kolumne ist ja, dass immer eine Person aus dem Literaturbetrieb ihre Bücher im Sinne der Kolumne umdreht, also das eigene Bücherregal zum My white male bookshelf macht. Die meisten waren auf irgendeine Weise erschrocken, obwohl sie das Ergebnis einigermaßen vorhergesehen hatten. Das ist natürlich ein Kompliment an das Konzept und vor allem die Person, die sich das mit dem Umdrehen ausgedacht hat - wer auch immer das gewesen ist.

Kritik oder Gegenwind kam bisher nicht. Einerseits spiegelt das sicher meine Bubble wider, andererseits zeigt mir das, dass man als weißer Mann mit feministischen Positionen wenig angreifbar ist. Das liegt sicher auch daran, dass die Kolumne nett auftritt, aber ich kann mir vorstellen, dass eine Autorin andere Reaktionen bekommen hätte.

Der*die Autor*in ist ja die eine Seite, aber über was die Bücher geschrieben sind, spielt ja auch eine Rolle. Gibt es deines Ermessens nach Themen oder Tendenzen von Themen, die eher von Frauen/POCs thematisiert werden als von (weißen) Männern? Und wie beeinflusst das wiederum uns als Lesende?

Ich würde die Frage mal umgekehrt beantworten:

Fingiertes Buchcover mit Gitarre, Schreibutensilien und Verstärker, Autor: „Junger weißer männlicher Autor“; Titel: “Erster Roman. Eine witzige, aber auch melancholische Geschichte, in der eine romantisierte, hippe Version des Autors mit Hilfe eines…

Fingiertes Buchcover mit Gitarre, Schreibutensilien und Verstärker, Autor: „Junger weißer männlicher Autor“; Titel: “Erster Roman. Eine witzige, aber auch melancholische Geschichte, in der eine romantisierte, hippe Version des Autors mit Hilfe eines „Manic Pixie Girls“ nach Sinn in einer befremdlichen Welt sucht.” Quelle: @ProfLisaDowning

Der Witz an dem Cover besteht ja darin, dass man das Gefühl hat, dass man die Geschichte im Buch kennt. Gleichzeitig ist es eine individuelle Geschichte, da nicht thematisiert wird, dass der Autor weiß und männlich ist.

Es geht aber wahrscheinlich permanent um Weißsein und Mannsein, was aber nicht weiter auffällt, weil das als Normalzustand gilt.

Und dann wird diese vermeintlich individuelle Position plötzlich universell, obwohl sie einfach nur die vorstrukturierte, vermeintlich allgemeingültige Geschichte wiedergibt.

Wenn ich mir vorstelle, dass da Old black female non-author steht, dann hätte ich das Gefühl, dass es um Alter, Blackness, Weiblichkeit und darum geht, wie man zur Schriftstellerin wird - ich würde also davon ausgehen, dass es hier um eine bestimmte und keine universelle Erfahrung geht. Es würde um die Positionierung der Autor*in gehen und nicht um den vermeintlich universellen existenzialistischen Weltschmerz eines jungen verkannten Genies - obwohl das natürlich eine mindestens genauso spezifische Positionierung ist.

Sabine Scholl hat in unserem Interview mit ihr erwähnt, dass Bücher mit weiblichen Autorinnen und weiblichen Hauptfiguren am schlechtesten bei Preisen und Wettbewerben abschneiden. Warum ist es für Männer (und auch Frauen) anscheinend so schwer, diese Bücher als wertvoll anzusehen?

Weil es halt Frauenbücher sind. Nein, im Ernst: In Frauenliteratur steckt die Abwertung ja schon drin, während männliche Literatur als universelle Literatur gilt. Diese Abwertung von Autorinnen wirkt offenbar auch bei Preisvergaben.

Ich finde, das sieht man auch an der Debatte über die diesjährige Vergabe der Literaturnobelpreise. In der Zeitung und auf Facebook sehe ich jeden Tag Artikel und Posts zu einem Autor, den ich kaum kenne und von dem ich kein einziges Buch besitze. Die Posts klingen so aufgeregt, dass ich bei all den großen Emotionen langsam das Gefühl bekomme, dass ich mir eine fette Suhrkamp-Gesamtausgabe kaufen muss, damit ich nicht allein in der Schulhofecke stehe. Über Olga Tokarczuk habe ich viel weniger gelesen und in meiner Bubble hat sich kaum jemand dazu geäußert. Außer im Sinne von: Immerhin hat eine Frau den Preis gewonnen. Dabei gäbe es zu Olga Tokarczuk wirklich viel zu sagen. Sie ist eine tolle Autorin, die man unbedingt lesen sollte. Zudem wurde sie von so großen Übersetzer*innen wie Esther Kinsky ins Deutsche gebracht.

Die Abwertung von Büchern von Autorinnen als Frauenliteratur gilt aber nicht nur für Preise. Das fängt z. B. auch beim Marketing an. Wenn das Cover von Emily Brontës Sturmhöhe so aussieht, als könnte ich das Buch nur im "She Shed" lesen (bitte in Suchmaschine eingeben), dann klebt der Sticker Frauenliteratur quasi schon drauf. Ich kaufe solche Bücher mittlerweile ganz gerne - und knabbere beim Lesen immer eine Tüte Chips #Mädelsabend.

Und dann auf der anderen Seite: Ist es nicht auch eine typisch menschliche Eigenschaft, dass wir uns sehr stark für Charaktere, Themen und auch Autor*innenperspektiven interessieren, die auf eine Art unsere eigene Lebensrealität als Mann*Frau/alt*jung/weiß*POC etc. aufgreift? Verengt das nicht unsere Leseperspektive?

Mit dem Kanon sind alle gleichermaßen konfrontiert, und der repräsentiert vor allem heterosexuelle weiße cis-Männer. (Größtenteils sind sie auch noch tot, aber es ist schwer, sich mit dieser Eigenschaft zu identifizieren.) Wenn man davon ausgeht, dass sich die meisten für Lebensrealitäten interessieren, die ihnen irgendwie entsprechen, dann verengt sich vor allem die Leseperspektive der Maximalpriviligierten, die nur ihre eigene Perspektive lesen. Das ist gleich zweifach problematisch: Zum einen bekommen diejenigen, deren Lebenswelt sowieso permanent gespiegelt wird, noch weniger von anderen Wirklichkeiten mit. Zum anderen wird es im Literaturbetrieb und auch im Wissenschaftsbetrieb belohnt, sich im Kanon auszukennen - und der wird tendenziell von den Maximalprivilegierten geprägt. So beißt sich die Katze in den Schwanz.

Ich nehme aber auch wahr, dass es viel Neugierde auf Texte gibt, die einem noch nicht bekannt sind und die einen vom Thema her und von der formalen Herangehensweise vielleicht erstmal in dem Sinne befremden, dass ihre Perspektive unbekannt ist oder die Herangehensweise nicht den üblichen Qualitäts- oder Genusskriterien entspricht.

Tillmann Severin. Foto: Lea Schneider

Tillmann Severin. Foto: Lea Schneider

Meiner Meinung nach ist es eine wichtige Aufgabe von Autor*innen und von Literatur, empathisch unterschiedlichste Perspektiven darstellen zu können, ohne sie selbst genau so erlebt zu haben. Gleichzeitig birgt das Schreiben über Menschen, deren Sozialisierung und ggf. Diskriminierungserfahrungen wir nicht teilen, die Gefahr, Stereotype und auch Machtstrukturen zu reproduzieren. Du bist ja selbst auch Autor, wie gehst du in deinen Texten damit um?

Ähm, tatsächlich ist meine Prosa der letzten Jahre ausschließlich aus der ersten Person Singular geschrieben. Und das sind immer Erzähler, die viele Identitätsmarker mit mir teilen ... aber das ist keine Antwort.

Ich finde es wichtig, sich seiner Voreingenommenheiten bewusst zu sein. Ich merke zum Beispiel, dass es mir schwer fällt, komplexe Frauenfiguren zu schreiben. Deshalb würde ich im Moment auch keinen Roman aus einer weiblichen Perspektive heraus schreiben. Trotzdem gibt es in meinen Texten natürlich weibliche Figuren. (Natürlich, sonst wären das ja reine Männeruniversen. Wie die Fußball-Bundesliga. Wer tut sich das an?) Du hast von empathisch unterschiedliche Perspektiven darstellen gesprochen. Ich denke, Empathie ist eines der wichtigsten Werkzeuge einer Autor*in. (Brandon Taylor hat so ziemlich alles dazu in diesem Artikel über Empathie als Werkzeug geschrieben.)

Auf dem ULF-Festival hat Rick Reuther auf Einladung der Lesereihe „Meine drei lyrischen Ichs“ lesen sollen, sich dann auf der Bühne aber auf eine Art geweigert, eigene Texte zu lesen, da er meinte es bräuche nicht „noch einen weißen cis-Typen mit Bart“ der eine Stimme bekomme. Ich fand das mutig, aber irgendwie als „Lösung“ auch schwierig. Wie stehst du dazu?

Erstmal ist das eine starke und mutige Geste. Trotzdem finde ich es wichtig, hier zwischen Individuum und Struktur zu unterscheiden. Es geht bei weißen cis-Typen mit Bart ja nicht darum, dem einzelnen das Recht zum Schreiben abzuerkennen, sondern Herrschaft und Privilegien zu verdeutlichen, die dafür sorgen, dass andere Stimmen systematisch untergehen. Weiße cis-Typen mit Bart können ja auch einfach gute Autoren sein und es kann auch passieren, dass einzelne Autoren zu Unrecht nicht gehört werden.

Traurig ist nur, dass ihre Stimme auf Kosten anderer Stimmen zum Normalfall erklärt wird.

Um genau das deutlich zu machen, braucht es Auftritte wie den von Rick.

Was sind deine top-drei Leseempfehlungen aus diesem Jahr?

  • Doris Anselm: Hautfreudin. Eine sexuelle Biografie.

  • Odile Kennel: Hors-texte

  • Olga Tokarczuk: Die Jakobsbücher (Das habe ich noch nicht gelesen, aber vieles andere, unter anderem Unrast in der ersten Kolumne)

Vielen Dank für deine Zeit <3

Ich danke dir <3


☞ Weiterlesen

  • Tillmanns Webseite hier.

  • Tillmanns Kolumne hier.

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