Selbstverwirklichung

Selbstverwirklichung

Lesen – Chillen – Lesen: Das perfekte Freizeit-Sandwich

Lesen – Chillen – Lesen: Das perfekte Freizeit-Sandwich

In dieser Rubrik stellen wir Alltagsbeobachtungen vor, die uns beschäftigen. Daraus leiten wir eine steile These ab, die polarisieren kann und soll. Um es noch spannender zu machen, laden wir nach Zufallsprinzip zwei Crew-Members von wepsert dazu ein, dann entweder dafür oder dagegen zu argumentieren.

Komisch, dass ich mich mit den männlichen Partnern einiger weiblicher Bekanntschaften besonders gut über Künstler, Filme, Bücher usw. unterhalten kann. Manchmal frage ich mich dann, ob die ersten Sympathien so entstanden sind – was man im Partner sucht, sucht man auch in mir als Freundin, und sei es, sich ganz egoistisch und extensiv mit Kulturerzeugnissen auseinanderzusetzen.
Niemals vergesse ich das Bild einer Vormieterin, einer dünnen kleinen Hippiefrau, die mit dem Kleinkind auf dem Fahrradsitz den Berg hochstrampelte, Feuerholz für den Ofen transportierte, zu ihrem Job hetzte. Und das Bild, das sich mir bei ihr zu Hause präsentierte: ihr Partner, Pfeife rauchend, vor dem Rechner sitzend, seit Jahren promovierend, wie sie mich informierte. Oder eine andere befreundete Familie, beide Stay-at-home parents: sie begann ihren Tag damit, die drei Kinder für den Kindergarten fertig zu machen, er mit einer Stunde Meditation und Yoga.
Ich stelle zuweilen aber auch fest, dass das zeitintensive Lesen, Musikhören, lustvolle Auseinandersetzen mit speziellen und gänzlich alltagsunpraktischen Interessengebieten bei anderen Frauen so nicht stattfindet. Vielleicht, weil sie schneller studiert haben, mehr und früher arbeiten, sich um Kinder kümmern. Möglicherweise folgt ihr Lustprinzip, ihre Selbstverwirklichung aber nur auch anderen Pfaden. Doch ich meine, häufig stattdessen einen – beileibe nicht immer freudvoll verrichteten – Dienst an der Gesellschaft, der Familie zu finden. Meine Beobachtung zieht sich durch alle sozialen Milieus, auch die vermeintlich alternativen. Das verwundert mich sehr! Dann frage ich mich, ob diese von intellektueller Lust geleitete Selbstverwirklichung ein Privileg ist, dass sich Männer selbstverständlicher nehmen.

Ist intellektuelle Selbstbefriedi ... äh Selbstverwirklung ein männliches Privileg?

Für die Pro-Seite hat diesmal Rebecca Faber argumentiert, die Kontra-Seite wurde von Ricarda Kiel bestritten. Die Argumentation spiegelt nicht unbedingt die Meinung der Autorinnen wider.


PRO

Natürlich könnte man das Privileg der kulturellen und intellektuellen Selbstverwirklichung des Mannes* mit der sogenannten Doppelbelastung der Frauen* erklären. Eine These, die ja bereits oben angesprochen wird und wohl wenig Erklärung bedarf.

Aber ist es nicht auch so, dass Kunst – sei es Literatur, Musik, Film, Architektur oder sonstiges – einfach zur Expertise und Domäne des Mannes* gehört? Schließlich gehört zum Mythos des kunstschaffenden Genies, das sich seit fast drei Jahrhunderten in unseren Köpfen festgesetzt hat, auch das Geschlecht – und zwar das Männliche. Der Gedanke, dass Männer* die besseren Künstler und auch die besseren Kunstkonsumenten sind, lebt weiter. Frauen* lesen angeblich ‚Frauenliteratur‘ und treffen sich zum Mädelsabend, um dann ‚chickflicks‘ anzuschauen. Ähnlich abwertende Gegenbegriffe zu rein männlichen Genres gibt es meines Wissens nach nicht. So werden Kunstwerke von und für Frauen* in eine Nische gedrängt, während der ganze Rest wohl den Männern* vorbehalten bleibt.

Hinzu kommt, dass Austausch über Kunst zwischen Männern* und Frauen* - anders als oben beschrieben – nicht immer auf Augenhöhe stattfindet. Gerade beim Flirten und bei der Auswahl des Partners kommt es manchmal zu Gesprächen, in denen der Mann* der Frau* seine Expertise in der Kunst präsentiert, ähnlich wie das Phänomen mansplaining. Ob das jetzt die Schallplattensammlung ist mit der die Frau* in die Wohnung gelockt wird oder die Heldin einer Kultserie, die sich in den Mann verliebt, der seine Randnotizen in ihr Lieblingsbuch geschrieben hat –  Kenntnis in Kunst wird zum kulturellen Kapital nach Bourdieu, mit dem Männer* Frauen* für sich gewinnen können.

Somit ist intellektuelle Selbstverwirklichung vielleicht nicht nur ein männliches* Privileg, sondern auch ein männlicher* Zwang. Wenn zu Kunst und Kultur Männlichkeit gehört, dann kann dies eben auch umgekehrt gelten: Ein Mann* muss sich damit auskennen und profilieren können. Sowohl bei der Partnersuche als auch in verschiedenen sozialen Situationen - etwa wenn die beste Freundin der Partnerin zu Besuch kommt - wird erwartet, dass der Mann* über "männliche" Themen verfügt. Kunst ist hier deutlich männlicher konnotiert als beispielsweise Emotionen. Diese Trennung der Expertisenbereiche nach Geschlechtern führt wohl dazu, dass Männer* sich mit "männlichen" Themen beschäftigen müssen und Frauen* in diesen immer noch nicht ernst genommen werden und sich vielleicht selbst nicht ernst nehmen können.

Es bleibt also die Frage, ob Selbstverwirklung tatsächlich Selbstverwirklichung ist oder ob bei der Bildung von Interessensgebieten nicht vielmehr die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht und zu einer sozialen Gruppe eine Rolle spielt.

- Rebecca Faber

KONTRA

Das ist für mich keine Frage eines Privilegs – das ist eine Frage von Beziehungsarbeit und gemeinsamen Werten in einer Partnerschaft. 

Ja, Bestandteile struktureller Benachteiligung spielen dabei eine Rolle. Zum Beispiel bleiben „natürlich“ meistens die Frauen, die ja oft weniger verdienen, für den größten Teil der Elternzeit bei den Kindern – aber in meiner Beobachtung geht es in vielen Fällen mehr um das zweite Auto, das neu gebaute und schön unterkellerte Reihenhaus, den Urlaub in Spanien (also darum, einen Lebensstandard zu „halten“ oder zu „steigern“) als um eine wirkliche Notwendigkeit, dieses Extrageld in der Familienkasse zu halten. 

Dieser Teil ist also (nicht immer, aber oft genug) eine Frage der gemeinsam gelegten Prioritäten, oder der Prioritäten, denen man sich, gemeinsam oder alleine, schweigend beugt. Hier, ein Teil meiner Selbstverwirklichung gegen einen neuen Flachbildfernseher.

Strukturell spielt dabei außerdem eine Rolle: Frauen werden immer noch zu Kümmerinnen erzogen. Insofern – ja, wahrscheinlich ist die intellektuelle Selbstverwirklichung auf Kosten anderer (denn nur darum geht es ja hier) ein Privileg, das sich einzelne Männer mit größerer Selbstverständlichkeit nehmen. Aber was fangen wir mit dieser Feststellung an? Müssen wir gerechterweise nicht auch feststellen: Die Männer nehmen sich dieses Privileg auch deshalb, weil es ihnen von manchen Frauen manchmal regelrecht hingeschoben wird? Weil sie ungeübt sind darin, ihre eigenen Bedürfnisse zu formulieren oder, noch gravierender,  sie überhaupt selber ernst zu nehmen? 

Wir können natürlich festhalten, dass auch das strukturell bedingt ist, dass wir tiefschürfende Veränderung in der Gesellschaft, in den Schulen, in Familien brauchen – aber kurzfristig bleibt uns überhaupt nichts anderes übrig, als uns selber zu ermannen, Privileg hin oder her. Aktiv zu üben, uns den Raum zu nehmen, den wir brauchen, zu üben, uns überhaupt wieder klar darüber zu werden, an welchen intellektuellen und sonstigen Freuden wir Lust empfinden.

An vielen Stellen hinterlässt uns das mit nichts mehr und nichts weniger als der Aufgabe, zu kommunizieren in einer Partnerschaft, auszuhandeln, wer was braucht und wie wir als Partner oder als Familie möglichst viele unserer Bedürfnisse gemeinsam umgesetzt bekommen.

Diese Gespräche über Verantwortungen und Kompromisse, diese Vereinbarungen, wer wann welchen gemeinschaftlichen Teil aufnimmt, wer wie für Familienarbeit entlohnt wird, wer wen in welcher Phase der Selbstverwirklichung unterstützt – die sind schwer, keine Frage. Aber das ist eine Arbeit, die in jeder Beziehung, die auf eine langfristige Gemeinsamkeit angelegt ist, geleistet werden muss, ganz egal, welches Geschlecht die Beteiligten haben. 

- Ricarda Kiel

6D Nami Matsushima

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Und jetzt alle zusammen

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