Als FLINTA* haben wir es in der vom Patriarchat geprägten Medizin nicht leicht: Wir werden in Studien vernachlässigt, von Ärzt*innen nicht ernst genommen und medizinisch sowie menschlich ungleich behandelt mit erheblichen Risiken für unsere Gesundheit. Die Lösung scheint einfach: Auch in der Medizin braucht es mehr und ein größeres Bewusstsein für Diversität. Doch das alleine reicht nicht: „Stattdessen müssen wir das gesamte System und seine historisch bedingten Machtgefüge hinterfragen“, sagt Sabina Schwachenwalde, Ärzt*in und Mitbegründer*in des Vereins Feministische Medizin e.V.
Wer hat jemals eine weibliche Reanimationspuppe gesehen?
Auch ich habe kürzlich wieder Bekanntschaft mit dem Patriarchat gemacht: Während meiner Auffrischungsschulung für Ersthelfer*innen fiel mir auf, dass eine wichtige Ressource fehlte: eine weibliche Reanimationspuppe. Dies war nicht nur ein symbolischer Mangel, sondern hatte auch konkrete Auswirkungen auf das Training. Denn während alle Menschen gleichermaßen von plötzlichem Herzstillstand betroffen sein können, gibt es wichtige Unterschiede in der Anatomie und Physiologie, die berücksichtigt werden müssen.
Ein grundlegender Unterschied betrifft die Platzierung der Hände während der Herzmassage. Aufgrund der unterschiedlichen Brustanatomie ist es entscheidend, den Druckpunkt entsprechend anzupassen, um eine effektive Kompression des Herzens zu gewährleisten. Eine falsche Platzierung kann die Wirksamkeit der Wiederbelebungsmaßnahmen erheblich beeinträchtigen.
Auch die Mund-zu-Mund-Beatmung erfordert besondere Aufmerksamkeit bei FLINTA-Körpern. Die Größe der Atemwege und mögliche anatomische Unterschiede haben eine Auswirkung darauf, wie diese Technik durchgeführt werden sollte. Wird dies nicht beachtet, kann es sein, dass die Luft nicht effektiv in die Lunge gelangt und somit die Sauerstoffversorgung des Körpers beeinträchtigt wird.
Diese geschlechtsspezifischen Unterschiede zeigen, dass die Medizin oft nicht auf die Bedürfnisse von FLINTA* eingestellt ist. Warum üben wir nicht mit einer weiblichen Reanimationspuppe? – frage ich die Trainerin. Sie antwortet kurz mit einem: „Gibt‘s doch nicht“. Ich frage zurück: „Aber ist das nicht unpassend? Uns wird gesagt, wenn die Person, die Hilfe braucht, weiblich gelesen wird, müssen wir erstmal auf den BH achten und diesen nach oben schieben, bevor wir mit der Herzmassage anfangen, trotzdem wird nur auf einer männlichen Reanimationspuppe trainiert und geübt.“ Außerdem gibt es eine Vielfalt an Körpern und Anatomien, die nicht immer den Idealen der männlich-weißen Menschen entsprechen. Bei übergewichtigen Menschen wird mehr Kraft für die Reanimationsmassage benötigt, das Gegenteil bei Babys und kleineren Kindern. Uns wird erklärt, es gäbe spezielle Schulungen für Babys und dort würde mit einer Babyreanimationspuppe geübt.
Eine breitere Vielfalt an Perspektiven und Hintergründen in der Gesundheitsversorgung könnte zweifellos dazu beitragen, die Bedürfnisse verschiedener Patient*innengruppen besser zu verstehen und zu erfüllen. Dennoch reicht Diversity allein nicht aus, um die tief verwurzelte Diskriminierung in der Medizin zu beseitigen.
Diskriminierung und Gesundheit in Zahlen
In einem kürzlich veröffentlichten Bericht des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismus Monitors mit dem Schwerpunkt Gesundheit untersuchten Wissenschaftler*innen des DeZIM-Instituts von Juni bis November 2022 die Diskriminierungserfahrungen von Menschen in Deutschland. Bei der umfangreichen und repräsentativen Befragung nahmen mehr als 21.000 Personen teil. Die Ergebnisse zeigen Folgendes:
Frauen [RF1] machen häufiger negative Erfahrungen als Männer: 39 % Schwarzer Frauen, 35 % muslimischer Frauen, 29 % asiatischer Frauen und 26 % nicht-rassifizierter Frauen berichten von mindestens gelegentlich ungerechter und schlechter Behandlung im deutschen Gesundheitswesen
Knapp jede dritte rassifizierte Person gibt an, dass ihre Beschwerden nicht ernst genommen wurden. Besonders bei Frauen: muslimische Frauen (39 %) und asiatische Frauen (37 %) haben deswegen Ärzt*innen gewechselt. Bei nicht rassistisch markierten Frauen sind es rund 29 %. (Quelle: DEZIM – Nationalen Diskriminierungs- und Rassismus Monitors 2022)
Die medizinische Praxis ist seit langem von patriarchalen Strukturen geprägt, die sich in verschiedenen Formen der Diskriminierung manifestieren. Frauen, LGBTQ+-Personen, People of Color und andere Gruppen, die marginalisiert werden, sind am häufigsten betroffen. Sie werden in klinischen Studien unterrepräsentiert, ihre Symptome werden häufig falsch interpretiert oder ignoriert, und sie erhalten nicht immer die gleiche qualitativ hochwertige Behandlung wie privilegiertere Menschen. Mittlerweile gibt es immerhin mehr Bewusstsein darüber, auch durch eine Vielzahl an Büchern zu diesem Themenkomplex, wie etwa „Unsichtbare Frauen“ von Caroline Criado-Pérez.
Die Lösung liegt nicht nur darin, mehr Diversität in die medizinische Belegschaft zu bringen, sondern auch darin, die strukturellen Barrieren und Vorurteile anzugehen, die eine gerechte Gesundheitsversorgung behindern. Dies erfordert eine tiefgreifende Umgestaltung des medizinischen Systems, einschließlich der Entwicklung von Richtlinien und Verfahren, die die Bedürfnisse aller Patient*innen umfassend berücksichtigen.
Technologie im Dienste der Vielfalt
Letztes Jahr war ich auf einer renommierten Start-up-Messe, auf der ich endlich einen Hoffnungsschimmer im Bereich der vielfältigen Health&Tech-Entwicklung zu erkennen glaubte, als ich erfuhr, dass eines der prämierten Start-ups das Ziel hat, Frauen bei der Erkennung und Behandlung von Endometriose zu unterstützen. Bei der Verkündung der Preise applaudierten einige von uns und dachten an die Notwendigkeit, in eine Medizin zu investieren, die die Diversität der Gesellschaft berücksichtigt. Währenddessen rieben sich die Investoren neben mir die Hände und beglückwünschten sich ununterbrochen für ihre rechtzeitige Investition und die erwartete Rentabilität ihres kurzfristigen Investments. Wie der spanische Schriftsteller Francisco de Quevedo schrieb, Geld regiert (leider) die Welt. Den (weißen) Investoren (alles Männer?) ging es sichtlich nicht darum, Menschen mit der Diagnose „Endometriose“ zu helfen, sondern schlicht, um ein neues Produkt und große Gewinne.
Wenn der Status quo der modernen Medizin die Bedürfnisse von FLINTA* ignoriert und Studien über weiße, cis-männliche Personen bevorzugt, werden Personen, die aufgrund verschiedener -ismen (Rassismus, Ableismus, Klassismus, Sexismus usw.) marginalisiert sind, auf die hinteren Ränge der Forschung und Anwendung gedrängt.
Ein intersektioneller Feminismus ist notwendig, um Unternehmer*innen und Investor*innen daran zu erinnern, dass sich der Bevölkerungsdurchschnitt auch in der Vielfalt der vorhandenen Gesundheitsanwendungen, Produkte und Dienstleistungen widerspiegeln sollte.
Wepsert hat eine neue Reihe!
In der Reihe BODIES betrachten wir Körperliches aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln, aber immer durch die feministische Brille – versteht sich von selbst! Rückt man Körper als Betrachtungsgegenstand in den Fokus, kommt man an Geschlechterfragen nicht vorbei. In unserem Alltagsverständnis sind Körper und Geschlecht so eng miteinander und ineinander verwoben, dass sie kaum mehr auseinanderzuhalten sind. Körperfragen sind Geschlechterfragen sind Machtfragen.
Warum ist das so? Und wie kontern wir das? Mit diesen Fragen im Gepäck wollen wir mit Geschlechternormen und mit der Vorstellung einer vermeintlich trennscharfen Binarität der Geschlechter brechen. Wir finden, man kann nicht genug auf die Unterdrückung weiblich gelesener Körper hinweisen. Let´s smash the Patriarchy!