Unisex – Körper & Kleider

Unisex – Körper & Kleider

Vielfalt und Ausdifferenzierung sind bei der Wahl des Lebensentwurfs, Genders und der Kleidung Zeitgeist. Vereinzeln wir bei so viel Individualität?

Schöne neue Produktvielfalt

Das Bewusstsein für Gender Diversity, die Bejahung einer breiten Skala von Geschlechtsidentitäten, ist erfreulicherweise im Mainstream angekommen. Vielfalt bereichert die Möglichkeiten von Identität und Selbstausdruck. Der Wunsch nach Individualisierung und das Bereitstellen einer großen Auswahl an auf spezielle Wünsche und Bedürfnisse angepassten Produkten gehen Hand in Hand. Ob Femme, Butch, Bear oder Boy – es gibt passende Styles für alle, Markt und Möglichkeiten sind ausdifferenziert und das ist schon mal fabelhaft. Wünschenswert bleibt noch, dass unterschiedliche Lebensentwürfe und Identitätsausprägungen ebenso selbstverständlich nebeneinander stehen dürfen wie die Produkte für jede Lust und jedes Bedürfnis in den Regalen unserer Warenhäuser. 

Der Gleichheitsansatz der 60er-Jahre

Gender Diversity wird für uns immer selbstverständlicher. Das war aber nicht immer so. Die in der frühen zweiten Welle der Frauenbewegung angestoßenen Veränderungen (damals noch stark auf Basics wie gleiche Rechte in der Arbeit und politischen Teilhabe – nicht, dass das abgeschlossene Themen wären!) gingen von einer Gleichheit der Geschlechter aus. Das ist vor dem Hintergrund der damaligen politischen Agenda nachvollziehbar, bei der vor allem die ökonomische Gleichstellung hergestellt werden sollte. Oder, die Rolle der Frau in der Ausprägung (nicht nur) sozialistischer Diktaturen: Frauen tun auch harte körperliche Arbeit, alle tragen dazu die gleiche praktische Arbeitskleidung. Die Vielfalt der Geschlechterrollen wird in Richtung dessen angepasst, was vorher als männlich galt. Alle sind gleich.

Jiang Qing, Politikerin und Ehefrau von Mao Zedong in maskulin geprägter Unisex-Bekleidung (Foto © Bettmann/Corbis)

Jiang Qing, Politikerin und Ehefrau von Mao Zedong in maskulin geprägter Unisex-Bekleidung (Foto © Bettmann/Corbis)

Auch heute noch herrscht schnell Alarm, wenn das Gleichmachen im Zuge einer fairen Behandlung unabhängig vom Gender angesprochen wird. „Gender-Mainstreaming? Dann weiß man doch nicht mehr, was Männlein und Weiblein ist!“ Mal ganz abgesehen davon, dass ich mich frage, was daran so schlimm ist, ist mit Gender-Mainstreaming natürlich nicht gemeint, dass alle zwangsweise in neutralgrüne Latzhosen gesteckt werden und den gleichen praktischen Topfhaarschnitt verpasst bekommen – keine Sorge! Es ist schon ein bisschen differenzierter. 

Männlein oder Weiblein?

Dennoch ist die heftige emotionale Reaktion auf Fälle bemerkenswert, in denen Kinder geschlechtsneutral erzogen werden (z. B. die Vorschule Egalia in Stockholm). Vermutlich steckt die Angst dahinter, nicht zu wissen, wen man vor sich hat, oder versehentlich mit der „falschen“ Person zu flirten. Umgekehrt aber fühlen bereits Kinder häufig früh, welcher Geschlechterrolle sie angehören, es fehlt nur an passenden Ausdrücken dafür, die es auch zu vermitteln gäbe. Praktischer Tipp bei Verwirrung: Einfach fragen, wen man vor sich hat, und nicht enttäuscht sein, wenn die Antwort länger und komplexer ausfällt als „Männlein“ oder „Weiblein“ oder das Gegenüber nicht über Genitalien reden möchte.

Genderbinarität ist zum Glück vorbei. Heute gilt: Such dir dein Gender aus dem kunterbunten Regenbogen der Möglichkeiten aus. Es gibt nicht nur ein, zwei oder vier Optionen, sondern so viele, wie es Menschen gibt. Absolute Individualisierung ist – auch privatwirtschaftlich geförderter – Zeitgeist, macht aber auf Dauer auch ein bisschen einsam. Wo bleiben denn da verbindende Gemeinsamkeiten? 

Seit jeher interessiere ich mich dafür, was mich von anderen unterscheidet, und, wenn mir jemand sympathisch ist, dann auch sehr, was mich mit meinem Gegenüber verbindet. Das absichtsvoll zu erkunden, macht für mich einen Teil dessen aus, was man Liebe nennt. Spielerisch-körperliches Entdecken in der Kindheit und im Liebesleben – alle haben Bauchnabel, Nippel und Polöcher, und es gibt Stellen, die sich unisex gut anfühlen – steht neben dem intellektuellen und gefühlsweltlichen Verlieben: Jemand denkt und fühlt wie ich, teilt Erfahrungen. Gemeinsamkeiten zu finden ist wunderschön.

Sharing is caring

Auch Bekleidung wird geteilt. Dies hat neben dem praktischen Aspekt, im Kindheitsalter Kleider auftragen zu können und so Geld zu sparen, auch für Erwachsene den Vorteil, die eigene Garderobe exponentiell zu vergrößern. Unter Geschwistern soziale Praxis, habe ich mich persönlich seit jeher am Kleiderschrank meiner Eltern, Partner und Freunde bedient: budgetschonend und beziehungsfördernd – oder war das rangeleienfördernd?

Boyfriend-Jeans und Swagger-Kleidchen

Der Beobachtung, dass Mädchen sich am Kleiderschrank ihres Partners bedienen, entsprang vor ca. zehn Jahren der Trend, locker und oversized sitzende Jeans und Strickjacken als Boyfriend-Jeans und Boyfriend-Cardigans zu produzieren und zu vermarkten. Die Begriffe sind Usus geworden, Girlfriend-Jeans gibt es aber immer noch nicht. Ein einseitiges Aneignen der andersgeschlechtlichen Garderobe also? Nicht ganz.

Hyper-männliche Swagger in T-Shirt-Kleidchen (Fotos: pinterest.de)

Hyper-männliche Swagger in T-Shirt-Kleidchen (Fotos: pinterest.de)

Wenn man sich die Silhouetten in der auf Männer ausgerichteten Modestile im Bereich Street-Style/Swagger anschaut, fällt auf: Die Hosen werden enger (wie Leggins), die Shirts und Hoodies immer länger. Nicht unähnlich den Styles Leggins + Tunika oder Strumpfhose + T-Shirt-Kleid. Umso spannender, als die beschriebenen Männeroutfits von einer Hip-Hop-orientierten und kaum feminisierten Gruppe getragen werden. Selbst wenn feminine Details wie Ohrringe oder pseudo-rebellisches Pink an Lacoste-Trägern eine urige Männlichkeit noch weiter hervorheben sollen – hat nicht schon häufig das Spiel mit dem Uneigentlichen den Weg für eine echte Veränderung geebnet?

Unisex und Haute Couture

In den Modenschauen der Haute Couture und den Modestrecken der glossy Magazine ist ein bestimmter Phänotyp bereits seit vielen Jahrzehnten nachgefragt: sehr groß, schlank, androgyn, boyish. Es gibt ungezählte Erklärungsversuche, warum das so ist. Es ist nachvollziehbar, dass die Kleidung optimal präsentiert werden soll; ebenfalls naheliegend ist, dass das Begehren und die ästhetischen Maßstäbe der Modemacher Einfluss auf die Auswahl der Models nehmen.

Transgender-Models

Davor zwar schon in Einzelfällen, in den letzten Jahren aber deutlich häufiger werden Transgender-Personen sowohl in der Damen- als auch der Herren-Haute Couture als Models eingesetzt. Für breite Öffentlichkeit sorgte spätestens der Erfolg von Andreja Pejic, der 2014 Wellen schlug. Mit gleich zwei Transgender-Models in der TV-Show Germany’s Next Top Model 2017 dürfte der Durchbruch nun endgültig den Mainstream erreicht haben. Geht es hierbei aber zumeist darum, den herkömmlichen Look mit einem unisex einsetzbaren Model zu bespielen (der Trans-Aspekt ist eher nicht sofort sichtbares Gimmick) sind Unisex-Kollektionen – also Kleidungsstücke, die nicht ausschließlich für Männer oder für Frauen genäht werden – für den Durchschnittsbürger tatsächlich noch so etwas wie Avantgarde. Bis jetzt.

Unisex-Kollektionen

Nice Teile aus Denim für egal welches Geschlecht in der H&M-Kollektion Borderless (Fotos: © www.hm.com/de)

Nice Teile aus Denim für egal welches Geschlecht in der H&M-Kollektion Borderless (Fotos: © www.hm.com/de)

Waren Unisex-Teile oder -Kollektionen bisher eine Sache für avantgardige Designer, kommen sie jetzt volle Breitseite im Mainstream an. Als Startschuss ließe sich EQL, die Kollektion von Toni und Niklas Garrn für Closed nennen. Levi’s (naheliegend für Jeans und Casual-Teile) zog mit Line 8 und die beiden Bekleidungsgiganten Zara und H&M dann endgültig für die ganz breite Masse nach. Zara hat für seine etwas jüngere Linie TRF eine Kollektion mit dem Titel Ungendered aktuell am Start; H&M hat sich ebenfalls auf Denim konzentriert und launcht Borderless.

Natürlich darf man nicht erwarten, dass diese gleich gemachten Kollektionen jedem gleich gut passen und stehen – ist aber vielleicht auch nicht so wichtig. Passform ist nicht alles, Körperform eh nicht. Tritt diese Perspektive "Ist das jetzt für Männer oder Frauen?" in den Hintergrund, dann wird Raum geschaffen für andere Erfahrungen und Überlegungen. Welche Wünsche an Kleidung verbinden uns? Welche Körperempfindungen und -bedürfnisse verbinden uns? Um welche Aspekte von Kleideranziehen und Menschsein geht es, wenn es mal nicht darum geht, wer welche Geschlechtsidentität hat? 

Was Unisex-Kleidung und die Praxis, sich an nicht-genderkonformen Garderoben zu bedienen (vielleicht auch Cross-Dressing), leisten können, ist ein spaßbezogener (Mode = Spaß!), spielerischer Umgang damit, was „männlich“ und „weiblich“ alles so sein soll. Jeder kann hiermit in Shirts schlüpfen und mal probieren, wie sich unisex so anfühlt. Keine Uniformen für genderbinäre Vorstellungen, in die man sich hineinquetscht und in denen man sich gefangen fühlen kann, sondern neutrale Klamotten für vielfältigste Menschen: eine schöne Freiheit!

 

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Thumbnail-Foto: Franklin D. Roosevelt, 1884

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